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Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 17.11.04:
Der Club der grünen Dichter
Im Internet verarbeiten Polizisten ihre Alltagserfahrungen in Gedichten
und Geschichten - bald soll ein Buch daraus werden
Von Christine Schlembach
Die erste Leiche vergisst man nicht. Besonders dann nicht, wenn der Mensch, der da tot am Boden liegt, der Kaufmann aus dem Heimatdorf ist. Von dem man als Kind stets eine große Hand voll Bonbons geschenkt bekam. Diese Hand hatte nun die Garage luftdicht verschlossen und den Motor des Opels laufen lassen.
Gerade von der Polizeischule entlassen, hat Volker Uhl das erlebt. In den 18 Monaten
Grundausbildung hat ihm keiner beigebracht, wie er in solchen Momenten seine Empfindungen in den Griff bekommen kann. Also schrieb er die Fakten für die Akten auf und vergrub das Gefühlschaos in seinem Innern.
Erst viele Jahre später schrieb Uhl das Erlebte für sich auf. Inzwischen ist er
Kriminalhauptkommissar in Ludwigsburg, und die Liste der ersten Male ist länger geworden:
der erste Raubüberfall, der erste Erhängte, der erste Mord. Ein Mann der seine Frau
erschossen hat kann im Verhör vor Hass nur noch brüllen. Uhl schreibt Tage später:
"Er musste erst zum Mörder werden, um jemanden zu finden, der ihm zehn Minuten lang zuhört."
Endlich hat der Beamte ein Ventil gefunden, Erlebtes zu verarbeiten; Kollegen taten es ihm nach.
Mit fünf Autoren startet im 2002 das Internet-Projekt "Polizei-Poeten". Inzwischen sind unter www.polizei-poeten.de regelmäßig neue Texte von mehr als 40 aktiven und ehemaligen
Polizisten zu lesen, und bald soll eine Sammlung der Gedichte und Geschichten als Buch
herauskommen.
Da schreibt die junge Streifenbeamtin Maike Trautmann aus Stuttgart. Ebenso Marion Inhuber,
die nach zehn Jahren beim Kriminaldauerdienst in München nun beim Staatsministerium des
Innern arbeitet. Die Kripo-Beamtin Nikola Hahn aus Südhessen ist mit von der Partie, die
mehrere historische Kriminalromane veröffentlicht hat. ( "Die Farbe von Kristall",
"Die Detektivin" ) Und Jörg Schmitt-Kilian, der mit der Biographie des Triathleten
Andreas Niedrig ( "Vom Junkie zum Ironman" ) bekannt wurde, ist ebenfalls ein
Polizei-Poet.
Coole Krimi-Helden sind sie alle nicht. Sie sind Menschen, die andere Menschen leiden
und sterben sehen, weil es ihr Beruf mit sich bringt. Schreiben als Selbst-Therapie also?
Nicht nur. Die "Blicke unter grüne Haut", wie Volker Uhl es formuliert, sollen auch für
die Leser eine heilende Wirkung haben. Zuerst war aber für ihn die Selbsttherapie wichtig.
Als er den Kanal des Schreibens endlich für sich entdeckt hatte, gelangte immer häufiger
schon vergessen Geglaubtes in sein Bewusstsein und führte den Stift. Auch die schwer zu
verkrafteten Rituale des Kripo-Alltags drängten aufs Papier: "Wir kommen erst, nachdem
Gevatter Leid/Bereits an Ihrer Haustüre geklingelt hat/Vielleicht gelingt es uns,
Ihnen/Einen mitfühlenden Blick zuzuwerfen/Oder Ihre angstgekühlte Hand zu halten/Oder
Ihnen zu sagen, wie es weitergeht/Wenn wir das erreichen,/Fühlt sich für uns die
Haustürklinke/Beim Gehen etwas wärmer an"
Um herauszufinden, ob seine Texte bei anderen Interesse wecken, liest der 42-jährige
Uhl das Geschriebene oft seiner Frau vor. "Sie ist mein literarischer Seismograph",
sagt er. Seinen drei kleinen Kindern mutet er die Texte dagegen nicht zu - es sei denn,
es ist mal etwas Lustiges darunter. Aber das ist selten der Fall.
Denn die Einsätze bestimmen die Themen der Polizei-Poeten. Ein Frontalzusammenstoß zweier
Autos, die Demonstration gegen einen Castor-Transport, der Selbstmord einer alten Frau,
die Flugzeug-Katastrophe von Überlingen am Bodensee, bei der 71 Menschen, vor allem Kinder,
sterben: "Und du stehst dazwischen, daneben, mittendrin und wünschst dir, du wärst
Meilen entfernt. Mindestens so weit, wie die Kinder nach dem Zusammenstoß bis zum letzten
Aufschlag auf die Erde, ins Roggenfeld, gebraucht haben. (...) Ob die Kinder dich sehen
können? Schweben ihre Seelen über dem Sterbeort und sehen alles? Auch dich, wie du jetzt
mit zusammengekniffenen Lippen dastehst, innerlich ertrinkst."
Bettlektüre, in der man vor dem Schlafengehen schmökert, ist die Sammlung der Texte
in Buchform sicher nicht. Das hat auch
Dietz-Werner Steck erkannt, der als Tatort-Kommissar Bienzle in Stuttgart ermittelt.
"Ab und zu legte ich das Buch zur Seite und atmete tief durch; zu dicht waren die
geschilderten Ereignisse und Empfindungen."
Der Schauspieler hat das Vorwort zu dem Buch geschrieben. Wenn alles so klappt, wie der
umtriebige Volker Uhl es sich wünscht, dann soll es im kommenden Jahr erscheinen. Ein
großer Verlag hat bereits sein Interesse bekundet. Unterdessen kommen fast wöchentlich
neue Autoren auf der Internetseite dazu, die ihre Gedichte und Geschichten im Club der
grünen Dichter veröffentlichen. Süddeutsche Zeitung (Der Abruf des Artikels aus dem Archiv der Süddeutschen Zeitung ist kostenpflichtig)
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(26.12.2024)
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"Ich entschloß mich von dem Standpunkt meiner eigenen
Erfahrungen zu schreiben, von dem was ich wusste und was ich
fühlte. Und das war meine Rettung...
... Was ist Original? Alles was wir tun, alles was wir
Denken existiert bereits und wir sind nur Vermittler. Das ist
alles. Wir machen von dem Gebrauch was bereits in der Luft ist."
Henry Miller, aus einem Interview in den 60-iger Jahren
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