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Artikel in der Stuttgarter Zeitung 15.09.2005:
Region Stuttgart
Über die Grautöne im Alltag der Grünröcke
LUDWIGSBURG. Polizisten sperren nicht nur Gauner ein, sondern sind im Alltag allzu häufig auch Gefangene ihrer selbst. Der Kripobeamte Volker Uhl hat jetzt ein Buch mit Erzählungen von Kollegen veröffentlicht - ein Manifest gegen den Verlust der Gefühle im deutschen Polizeiapparat.
Von Michael Ohnewald
Der wahre Tatort beginnt für Kommissar Bienzle neuerdings zu Hause im Lesesessel. Mit einem Taschenbuch in Händen sitzt er da und atmet tief durch, weil ihn das Geschriebene stärker berührt als die meisten Drehbücher. "Endlich Schluss mit dem Bullengetue", sagt er. Endlich mal Polizisten, die "nicht nur stark, hart und unbesiegbar sind, sondern mitfühlend, sensibel und menschlich".
Vielleicht hat der Filmkommissar Dietz-Werner Steck deshalb zu jenem Buch das Vorwort geschrieben, das seit wenigen Tagen auf dem Markt ist. Darin geht es nicht um heldenhafte Kommissare wie Schimanski aus Duisburg oder kauzige Bullen aus Tölz, sondern um einfache Streifenbeamte, die ihren Kopf wirklich hinhalten müssen, um Polizisten, über deren Seelenleben nichts bekannt ist, weil sie sich nicht wichtig nehmen, um Beamte, die nicht vor der Kamera stehen, sondern an Tatorten, die sich nicht mit der Fernbedienung wegzappen lassen.
So wie Karin Stark, eine stille Staatsdienerin vom Revier in Ludwigsburg, von der man nicht viel weiß und wohl noch weniger wüsste, gäbe es nicht dieses neue Buch des Kriminalhauptkommissars Volker Uhl. Er sammelt schon seit vielen Jahren Geschichten von Kollegen, die sich nicht scheuen, ihr Innenleben nach außen zu kehren.
Karin Stark erzählt von ihren Ermittlungen gegen einen brutalen Vergewaltiger. Sie träumt nachts von einem weißen Opel, in dem er gesehen worden ist. "Ich kenne die Opfer von ihren Zeugenaussagen. Zehn Frauen, die in meiner Gegend wohnen", schreibt sie. "Zehn Frauen, die abends nicht mehr allein aus dem Haus gehen. Die immer noch Angst vor dem Täter haben. Alle in meinem Alter. Auch für sie suche ich den Vergewaltiger." Nach Monaten wird die Polizei seiner habhaft. Es gibt eine Gegenüberstellung der Opfer mit dem Täter. Die Kriminalbeamtin aus Ludwigsburg ist mittendrin: "Endlich war er überführt. Die Frauen lagen sich in den Armen. Auch mir liefen die Tränen herunter. Wir waren eine Gemeinschaft."
Beschreibungen wie diese sind Volker Uhl wichtig, weil sie die Grautöne bei den Grünröcken sichtbar machen, und weil sie ungeschminkt sind, und gefühlsecht. Davon gibt es wenig in seinem Job. Auf der Suche nach der Normalität in einem Beruf, der viele abstumpfen lässt, hat der Familienvater vor drei Jahren den Club der Polizei-Poeten gegründet. Mehr als zwanzig Autoren, von der jungen Beamtin aus Stuttgart bis zum Diensthundeführer der Polizeiinspektion Nürnberg, konnte der 43-jährige Kriminalist aus Hemmingen im Kreis Ludwigsburg für seine Seite im Internet gewinnen. Daraus ist die Idee erwachsen, ein Buch zu machen.
Wenn er nicht selbst gerade schreibt, ermittelt Uhl gegen Wirtschaftskriminelle. Manchmal hat er Bereitschaft, wie damals, als in Gerlingen eine Rentnerin erschossen wird. Noch bevor die Polizei davon erfährt, meldet sich der Ehemann und gesteht. Uhl vernimmt ihn, tippt sein Protokoll. Der Mörder redet sich sein Leben von der Seele. "Wie kann es nur so weit kommen", fragt sich der Ermittler. Dann kritzelt Uhl plötzlich diesen Satz auf einen Zettel: "Er musste erst zum Mörder werden, um jemand zu finden, der ihm zehn Minuten zuhört." So hat es angefangen mit den Poeten von der Polizei und dem Protokoll jenseits der Fakten für die Akten.
Zu den Autoren, die sich gegen die innere Verrohung stemmen, gehört auch ein altgedienter Fahnder, dessen wahrer Name nichts zu Sache tut. Im Buch heißt er Siegfried Ries. Er war in den achtziger Jahren mit den Ermittlungen gegen den Hammermörder befasst, der drei Autofahrer erschossen hat, um ihre Fahrzeuge für Banküberfälle zu nutzen. Ein Verdacht richtete sich gegen den Polizeibeamten Norbert Poehlke, doch die Spur 3799 wurde von Ries nicht so schnell weiterverfolgt, wie es hätte geschehen können. Poehlkes Dienstwaffe wurde bei der Untersuchung nicht vorgezogen - ein schwerer Fehler. Am Ende wurde Poehlke zwar als Hammermörder identifiziert, doch da hatte der Familienvater bereits vollendete Tatsachen geschaffen. Poehlke hatte seine Frau erschossen, die beiden Kinder und sich selbst.
Unter dem Gefühl, vielleicht zu spät gehandelt zu haben, leidet Ries bis heute. "Wenn, ja wenn. Ich habe ein paar Erklärungen, wie es zu allem kam, um jetzt nicht an Selbstmitleid oder Selbstvorwürfen zu zerbrechen. Aber es hätte mein Leben ordentlich verändert, wenn ich es geklärt hätte. Und ich hätte zwei Kindern und einer Frau das Leben retten können. Ich habe es verpasst."
Die erste Leiche vergisst man nicht. Polizisten erzählen. Herausgegeben von Volker Uhl, Piper Verlag, München, 220 Seiten, 8,90 Euro
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Henry Miller, aus einem Interview in den 60-iger Jahren
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